Sie sind meist zu zweit. Sie beobachten und bekämpfen Ziele, sichern ihre Kameraden. Die Seedorfer Scharfschützen nahmen uns erstmalig nach Chahar Darreh in Afghanistan mit.
Das Selbstmordattentat vom 7. Oktober zeigt, wie wichtig der Schutz der deutschen Soldaten ist. Schutz, den auch die Scharfschützen als Auftrag haben. Sie waren geschockt, dass es den 26-jährigen Oberfeldwebel sechs Kilometer nordwestlich des Regionalen Wiederaufbauteams (PRT) Pol-e Khomri getroffen hatte. Wie die Scharfschützen kam auch der Oberfeldwebel aus Seedorf. Wie sie, diente auch er im Ausbildungs- und Schutzbataillon in Kunduz.
Der Truppführer der Scharfschützen, nennen wir ihn „Palme“, kannte ihn persönlich. In den Stunden nach dem Selbstmordanschlag, bei dem auch 14 deutsche Soldaten verwundet wurden, ist Hauptfeldwebel Palme als Peer (extra ausgebildete Soldaten für Extremsituationen, Ersthelfer für eine psychologische Betreuung) tätig. In ständiger Sorge um seine Kameraden, hat er immer ein offenes Ohr für sie. Sein eigentlicher Auftrag in Kunduz ist der Schutz der Kameraden, da draußen im „Indianerland“, wie sie es hier nennen. Dafür liegt Palme dann in der prallen Sonne.
Seit Stunden beobachtet der Scharfschützen-Zugführer das Tal unter ihm. Heute ist es gut 43 Grad heiß, und manchmal fragt er sich, ob er mit 37 Jahren nicht langsam zu alt dafür ist. Sein „Buddy“, ein 26-jähriger Stabsgefreiter, meint dazu augenzwinkernd „ein erfahrener Landser lässt eben seinen Hauptfeldwebel arbeiten“. Die beiden Männer sind ein Scharfschützen-Team und liegen in der Nähe von Kunduz auf einem Hochplateau, der so genannten Westplatte, mitten im „Indianerland“. Palmes Auftrag lautet, eine deutsch-afghanische Fußpatrouille zu sichern. Dafür bezieht er lange vor dem Abmarsch der Patrouille mit seinen Jungs seine Stellung.
Immer mit dabei: ihre Waffenpalette. G22, G82 und vor allem G3 ZF, Palmes Lieblingswaffe. Der Distrikt Chahar Darreh ist gefährlich. Hier werden ISAF-Soldaten regelmäßig von den Aufständischen beschossen und angesprengt. Das wissen die Seedorfer Fallschirmjäger, denn es ist auch eine Bedrohung für sie. „Meine Männer sind top ausgebildet und sehr einsatzerfahren“, sagt Palme. Durch seine Optik beobachtet er gerade 30 Männer, die in einem Gehöft verschwinden. Eine dreiviertel Stunde später verlässt die Gruppe das Areal wieder. Palme vermutet dort einen Gebetsraum. Er wird diese Information später auf der Lagekarte ergänzen.
»Scharfschützen müssen leidensfähig sein«
Das Gelände ist schwierig. Vereinzelt fahren Autos und Motorräder. Der Feind kann überall unerwartet hervorkommen. In den Feldern steht das Getreide so hoch, dass dort Personen wie aus dem Nichts auftauchen und im nächsten Augenblick wieder verschwinden. Plötzlich meldet die Patrouille über Funk Schüsse. Sofort sucht Palme die Gegend mit dem Spektiv ab. Einfach so daliegen und beobachten ist gar nicht leicht. Helm, Feldanzug und Splitterschutz stellen den Soldaten vor Probleme.
Also Helm mal ab, hier draußen geht Wirkung vor Deckung. Dornen bohren sich durch das feine Uniformgewebe in die Haut. „"Scharfschützen müssen leidensfähig sein“, sagt Palme, „und in der Lage, Schmerzen zu ignorieren".“ Dabei läuft ihm der Schweiß in die Augen. Die Sonne brennt ihm auf die Haut. Palme und seine Jungs blenden das aus, anderes Lebenswichtiges jedoch nicht. Damit das System Mensch nicht schlapp macht – so trichtert Palme seinen Männern immer wieder ein – sollen sie „viel "trinken, auch schon vorher, damit was drin ist im Körper“. "Für die geplanten drei Stunden rät er zu mindestens drei Litern Wasser, „"sonst ist ruckzuck der Akku leer".“
Auch wenn die Operation tagsüber läuft, bereitet sich der Hauptfeldwebel auf den Abend vor. „"Ich will, dass wir da oben alle nachtkampffähig sind“, "befiehlt er. „"Wenn die Kameraden unten Stress haben oder sich etwas verzögert, liegen wir da oben rum bis in die Dämmerung hinein. Da will ich alles dabei haben"“, begründet er seine Entscheidung. Wichtig ist auch die Schutzbrille. Denn die Augen müssen vor Dreck, Wind und Sonnenlicht geschützt werden. Sie sind das Kapital der Scharfschützen.
Oben auf der Westplatte aktiviert er mit einer Zielansprache seinen Buddy: „"Achtung! Von eigener Stellung über Kugelbaum nach weißes Haus, Entfernung siebenhundert."“ Ein Moment Anspannung. Beobachten. Analysieren. Fehlanzeige! Was wie Routine aussieht, ist das Ergebnis jahrelanger Ausbildung, Übungen und Einsatzerfahrung. Dazu gehört auch das Bekämpfen von Zielen. Truppführer Palme trifft mit seinem G22 ein Ziel in 800 Metern Entfernung.
Jeder potenzielle Feind wird es sich zweimal überlegen, sie oder eine Bundeswehreinheit anzugreifen, wenn er weiß, dass er auch bei Nacht ab einem Kilometer Entfernung in das Visier der Scharfschützen geraten kann. „"Ich bin Perfektionist und das muss ich sein, da es von mir erwartet wird"“, sagt Palme. Darum arbeiten er und seine Kameraden immer wieder an den Basics: Tarnen, Täuschen und Schießen.
Strenges Auswahlverfahren
Die Gefahr zu verrohen ist ihm bewusst. Deshalb erinnert Palme seine Männer stets daran, dass sie beim Blick durch das Zielfernrohr „"tatsächlich ein Menschenleben in den Händen halten. Das ist ein Ernährer, ein Familienvater“," erklärt er, „"der eben in einem Moment die Absicht hat, uns zu töten.“ "Sie wissen um ihre Verantwortung. Jeder rechtfertigt einen Schuss zuerst vor sich selbst. Dafür bedarf es einer angemessenen Vorbereitung.
„"Um professionell arbeiten zu können, ist eine professionelle Ausrüstung notwendig"“, weiß Palme. Dazu zähle auch ein vernünftiger Eigenschutz. „"Draußen ist keine Zeit zum Experimentieren, da muss man sowieso schon genug improvisieren"“, sagt er. Sein oberstes Ziel sei, „unsere "Aufträge gut und sicher durchführen zu können"“. Auf seine Männer ist dabei Verlass. Logisch, hat er sie doch selbst ausgebildet. Grundlage für einen erfolgreichen Scharfschützen sind das Üben und eine gute Unterweisung.
Rund 20 Mann kommen zu ihm ins Auswahlverfahren. Nach einem Monat sind es noch drei bis fünf. „"Sie müssen körperlich robust sein und Schmerzen wegstecken können“, "erklärt Palme. Darüber hinaus sollten die Soldaten flexibel und charakterlich gefestigt sein, „"damit sich kein John Wayne in die Reihen schleicht".“ Weitere Voraussetzungen: „"Am besten hat man als Soldat die Bundeswehr schon zwei Jahre kennen gelernt und kommt dann zu mir.“ "
Als Anreiz kann er sich eine Verpflichtungszeit von acht bis zwölf Jahren vorstellen, „"damit mehr Soldaten in die Auswahl kommen.“ "Auch um Planungssicherheit zu haben und die hoch spezialisierten Kräfte nicht schon nach dem ersten Einsatz an den Berufsförderungsdienst abgeben zu müssen, nach nur vier Jahren Dienstzeit. Denn, so Palme, erst nach einem Jahr, wenn sie ausreichend geübt hätten, seien sie auch wirklich „Combat Ready“.
Seit 1994 ist er selbst bei der Bundeswehr, seit 1997 als Scharfschütze, wollte „"zu den Spezialisten gehören"“. Heute treibt ihn die Verantwortung für die Männer um. „"Hast du an alles gedacht, hast du den Männern alles gesagt?"“ Das frage er sich nicht nur im Einsatz, sondern auch zuhause. Ohnehin viel beschäftigt mit Vor- und Nachbereitungen und intensiver Ausbildung, fehlt Palme oft Zeit für seine Familie. Deshalb versucht er, das Thema Bundeswehr von ihr möglichst fern zu halten, zumal er nun schon das siebte Mal im Einsatz ist. Vor allem durch seine Männer erfährt er die Bestätigung, die auch er mal braucht, denn „"der Mensch ist ein Mensch, keine Maschine.“ "
Körperlich und mental fit
Als Spezialisten brauchen Scharfschützen auch spezielle Ausrüstung. Das beginnt beim Tarnanstrich für das Scharfschützengewehr, geht über einen besonderes geformten Helm, der den Nackennerv nicht abklemmt, bis hin zu abgeklebten Wasserflaschen, um Reflexionen zu vermeiden. Große Stücke hält der Scharfschützenzugführer auf sein „innovatives Bataillon“.
Ihr Chef lässt seinen Männern weitestgehend freie Hand. Mit gutem Grund: Die Seedorfer Scharfschützen gehören zu den Spezialisierten Kräften des Heeres. Sie beherrschen alle fünf Waffen blind, verfügen über eine breite Palette Fernmeldemittel, sodass sie auch weit abgesetzt frei operieren können. Dazu müssen sie fit wie Top-Athleten sein, denn die 30-Kilo-Rucksäcke müssen auch mal weiter als 15 Kilometer transportiert werden. Und dies möglichst unentdeckt.
Gleichzeitig sind Waffen- und Einsatzgrundsätze, Meteorologie, Physik jederzeit abrufbar, wenn es außerhalb des PRTs gefährlich wird, denn da sieht es anders aus als im Camp. Mausgrau zum Beispiel. Palme nennt ihn „Mondstaub“, den grauen, pulvrigen Sand, der hier so fein ist, dass er jeden Stiefelabdruck sofort auffüllt und wieder verschwinden lässt. Bei jedem Schritt entsteht eine Staubwolke, die jede Bewegung verrät. Palme geht mit seinen Männern überschlagend, also unter gegenseitiger Sicherung, nach getaner Arbeit zu den bereitstehenden Gefechtsfahrzeugen.
Der Weg zum Absetzpunkt oder zurück ins PRT ist gefährlich. Der nächste Meter könnte der letzte sein. Versteckte Sprengladungen (Improvised Explosive Devices, IEDs) haben schon so manche Fahrt gestoppt. Ein mulmiges Gefühl. Jeder, der im Raum Kunduz unterwegs ist, weiß: die Lage ist ernst. Laut Feindlage halten sich in den umliegenden Orten mindestens 20 Insurgents (Aufständische) auf, die in weniger als einer halben Stunde zusammengezogen werden können.
Weiterhin in den Spiegel gucken können
Da kommt ein Scharfschützentrupp einer Lebensversicherung gleich. Ein Zugführer von Höhe 432 bringt es auf den Punkt: „"Zwei Scharfschützen verdoppeln die Kampfkraft".“ Um die aufrecht zu erhalten, macht Palme mit seinen Männern nach jeder Operation eine Auswertung (After Action Review), „"sonst denkt jeder, alles war tiptop und geht mit dieser Einstellung ins Bett"“. Er wertet den Einsatz auf der Westplatte auch ohne Feindkontakt als Erfolg. Denn, so erläutert er, „"es bedeutet, dass der Feind von seiner Absicht Abstand genommen hat oder davon abgeschreckt wurde, uns anzugreifen"“. Somit sei das „Ziel erreicht“.
Ob die vereinzelten Schüsse der Patrouille gegolten haben, lässt sich nicht feststellen. Noch am selben Abend muss sein Trupp wieder raus. Auffällige Aktivitäten wurden beobachtet, die genauer untersucht werden sollen. Ein Auftrag, der ihn und seine Männer bis vier Uhr in der Frühe binden wird. Für Palme als „Nachtschattengewächs“ eine willkommene Abwechslung nach einem Tag wie diesem. Gegen fünf Uhr morgens fällt Palme dann erschöpft ins Bett.
Doch an Ausschlafen ist nicht zu denken. Über Luftbildaufklärung (UAV) wurden auf der Kamins-Road verdächtige Wärmesignaturen gemeldet. Nur wenige Stunden zuvor hat sie ihr Kompaniechef passiert. Sofort weist Palme seine noch müden Männer in die Lage ein, bei der folgenden Überprüfung werden sie die Straße sichern. Er nimmt alle mit, um die Schicht für den einzelnen Schützen zu verkürzen. Warum tut er sich das noch an? Er lacht: „"Wie hat der Chef gesagt? Du glaubst immer noch an das Gute".“ Auf jeden Fall bleibe er „"wegen meiner Männer"“ hier. „"Ich kann nicht zuhause sitzen und Feldpostpakete schicken"“, sagt Palme nachdenklich, „"dann kann ich mich nicht konzentrieren, ich muss vor Ort sein".“ Außerdem habe er seinem Land die Treue geschworen. „"Und ich will weiterhin in den Spiegel gucken können".“
Waffen
G22
Hohe Reichweite, große Treffgenauigkeit. Das integrierte Strichbild des Zielfernrohres wird mittels einer Diode beleuchtet. Die optionale Nachtkampffähigkeit macht das G22 zu dem idealen Scharfschützengewehr, mit dem man Ziele noch in 600 Metern Entfernung trifft. Die Repetierwaffe feuert mit dem Kaliber 7,62 Millimeter x 67 und wiegt mit gefülltem Magazin 9,2 Kilogramm.
G3 ZF
Ist ein G3A3, mit einem besonderen Zielfernrohr. Mit dem Kaliber 7,62 Millimeter x 51 kann der Schütze bei optimaler Tagsicht Ziele in bis zu 600 Meter Entfernung anvisieren. Das G3 ZF wiegt etwa 4,8 Kilogramm und wurde trotz anfänglicher Widerstände bei den 313ern im Jahr 2003 aufgrund seiner Wirkung im Ziel wieder in den Zug aufgenommen.
G82
Anti-Material-Rifle mit großem Kaliber 12,7 Millimeter x 99 mit Hartkernmunition. Es dient der Bekämpfung technischer Ziele wie Fahrzeuge bis zu einer Entfernung von zirka 1.500 Metern bei optimaler Tagsicht. Die halbautomatische Waffe wiegt ungeladen mit Zielfernrohr stattliche 12,9 Kilogramm. Charakteristisch für das G82 als „Gewehr große Reichweite“ ist die Mündungsbremse, die den Rückstoß mindert.
Spezialisten
Scharfschützen-Zug
Dieser dienstälteste Scharfschützen-Zug der Bundeswehr gehört zum Fallschirmjägerbataillon 313 in Seedorf und damit zu den Spezialisierten Kräften, die im infanteristischen Kampf eingesetzt werden. Schwerpunkt sind Aktionen gegen irreguläre Kräfte, wozu auch verdeckte Operationen zählen.
Team
Beobachter klärt auf, Schütze schießt - eine Einheit. Der Beobachter (gleichzeitig Truppführer) überwacht mit dem Fernglas oder Spektiv die Umgebung, gibt dem Schützen Anweisungen zur Höheneinstellung des Zielfernrohres per Einstellrädchen („Klicks“) und erfasst die Trefferlage.
Tarnen
Führen Scharfschützen Aufträge im Gelände aus, tragen sie einen Tarnanzug, der sie mit der Umgebung verschmelzen lässt, den „Ghillie-Suit“. Der Zottelanzug ist gespickt mit Fasern aus Sackleinen und natürlichen Materialien.
Оригинал статьи: http://www.y-punkt.de/portal/a/ypunkt/k ... ontent.jsp